Im Rahmen unserer Vitamin D-Reihe haben wir uns auch mit dem Phänomen des VitaminD-Bashing [1] befasst. Dort haben wir eine ganze Reihe unterschiedlich operierender Akteure und ihre Methoden dargestellt. Nun hat ein hiesiges Blättchen – nicht wirklich überraschend – uns um ein weiteres, quasi regionales Exempel „bereichert“: Die Methode des Organs OberhessischePresse beim VitaminD-Bashing könnte man vielleicht in der Rubrik „wissenschaftlich verbrämt“ einordnen, oder eher noch als moderaten Fall aus der Sparte „Wenn Autoritätsgläubigkeit auf Halbwissen trifft“.

Am 19.02.2025 erschien in der OberhessischenPresse (OP) der Report „Sonnenvitamin“ aus der Packung – wie sinnvoll ist das? (Autor: Felix Hamann) [2]. Darin ging es um die gesundheitliche Rolle von Vitamin D und speziell um die Bedeutung einer entsprechenden Substitution durch Nahrungsergänzungsmittel.
Von der Wintersonne
Der Beitrag vermittelt im Großen und Ganzen folgenden Eindruck: VitaminD ist ja durchaus wichtig, aber wir haben im Allgemeinen doch genug davon und brauchen es nicht noch in Form von „Kügelchen“ oder „Tröpfchen“ (Original-Wording der OP) zu uns zu nehmen – allenfalls in bestimmten Ausnahmefällen. Zumal es ja sogar zu Vergiftungen führen kann! Und schließlich kann man sich doch in die Wintersonne setzen, und die Haut wird dann schon ihr Übriges tun…
Diese Assoziation erzeugt ja sofort das eingefügte Foto, bei dessen Betrachtung der Leser gleichsam ein wohliges Kribbeln auf seinen Wangen verspüren mag. Das mit Winterwetter in Marburg betitelte Bild zeigt zwei winterlich gekleidete Damen auf einer Bank, die ihr Gesicht offenbar genüsslich der „strahlenden“ Sonne zuwenden: „Vitamin D bildet die Haut vor allem durch Sonnenlicht“[2] erfahren wir. „Im Winter fehlt das manchen Menschen.“
Nun, das ist eine recht drastische Untertreibung. Im Winter wie auch in den angrenzenden vier bis fünf Monaten fehlt es hierzulande praktisch jedem, der sich auf die Sonne verlässt. Immerhin wird das im Fließtext auch so benannt: „… kommt es im Winter aufgrund der zu niedrigen UV-B-Strahlungsintensitäten zum Erliegen der körpereigenen Vitamin-D-Produktion.“[2] Aber ein fett gedruckter und farblich unterlegter Einklinker wird halt von deutlich mehr Lesern beachtet als der Fließtext…

Was die OP uns unter’m Strich nahelegen will, ist wohl dies: Wenn es überhaupt ein Problem mit der Vitamin D-Versorgung geben sollte, dann doch allenfalls im Winter: „Während im Sommer ausreichend UV-B-Strahlung für die Bildung von Vitamin D vorliegt, …“[2]
Ja, die liegt freilich im Sommer prinzipiell vor. – Aber de facto halt bloß an bestimmten Tagen, lediglich zu bestimmten Stunden und für den Einzelnen nur unter bestimmten Voraussetzungen [3].
Wenn Risikogruppen zum Massenphänomen werden
Und da wären wir bei den im Artikel auch kurz erwähnten Risikogruppen: Pflegeheimbewohner, Verhüllte (gemeint sind wohl Träger von Niqab, Burka, Purdah, Mund-Nase-Schutz u.ä. religiösen Requisiten), Raucher, Übergewichtige und chronisch Kranke – nicht aufgeführt werden Senioren (auch die außerhalb von Pflegeeinrichtungen), Straf- und Untersuchungsgefangene, dunkelhäutige Migranten, Konsumenten von mit Vitamin D interferierenden Medikamenten wie etwa Antiepileptika oder bestimmten Anti-Östrogenen [4], Psoriatiker (,die sich keineswegs automatisch als chronisch Kranke empfinden), sonstige Menschen mit empfindlicher Haut, konsequente Benutzer von Sonnenschutz und Sonnenmuffel, wahrscheinlich auch Schwangere, Säuglinge, Kleinkinder sowie in jedem Fall die vielen, die berufsbedingt nicht oder erst gegen Abend an die „frische Luft“ kommen.

Zusätzlich wird die ins Feld geführte Funktion der Vitamin D-Speicher einfach überschätzt [5].
Relevanter Mangel an Vitamin D?
Wenn das nun so sein sollte, man also durchaus von einem relevanten Mangel an Vitamin D bei vielen ausgehen müsste, dann sollte es dafür doch auch Belege geben, oder?
Oder ist das vielleicht nur schwer nachweisbar, weil sich doch „Auf den ersten Blick (…) nicht immer eine unzureichende Vitamin D-Versorgung erkennen“[2] lässt? (Sie lässt sich – abgesehen von der sich im Kindesalter entwickelnden Rachitis – praktisch NIE auf den ersten Blick erkennen!)
Zum Vitamin D-Bashing kein Grund: eindrucksvolle Zahlen
In der Tat liegen diese Belege in Form eindrucksvoller Zahlen vor. Diese haben wir in einem eigenen Kapitel bereits ausführlich vorgestellt [6].
U. a. hat das RKI 2018 eine retrospektive Standardisierungs-Studie zur Vitamin D-Versorgung in Deutschland durchgeführt [7]. Sie beruhen auf mehreren großen Messreihen in den Jahren zwischen 1997 und 2011.
Auf Basis der standardisierten Daten aus der Studie zur Gesundheit von Erwachsenen in Deutschland (DEGS1) und der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland wiesen 15,2 % der Erwachsenen und 12,5 % der Kinder einen Vitamin D-Spiegel von weniger als 30 nmol/l auf, also von weniger als 12 ng/ml.
Selbst nach solchermaßen extrem konservativen Grenzwerten entspräche das für die deutsche Bevölkerung im Alter zwischen 1 und 79 Jahren einem Mangel bei 11 Millionen Personen.
Aus den standardisierten Serum-25(OH)-Vitamin D-Daten des Bundes-Gesundheitssurvey 1998 (BGS98) und der DEGS1 in der genannten Arbeit geht weiterhin hervor, dass die Prävalenz des Vitamin-D-Mangels über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren stabil geblieben ist. Allerdings war die ebenfalls sehr konservativ definierte Insuffizienzprävalenz (30 bis < 50 nmol/l) in der neueren DEGS1-Erhebung deutlich höher als noch beim BGS98 (41 % vs. 27 %). Demnach hatten mit Stand von vor ca. 14 Jahren alleine mehr als 41 Millionen Bundesbürger (ca. 56 %) Vitamin D-Spiegel, die unterhalb von 20 ng/l lagen.
Jahreszeitliche Besonderheiten wurden bei dieser Statistik noch gar nicht berücksichtigt.
OberhessischePresse und VitaminD-Bashing: Bagatellisierung als Tool
Insgesamt zeigen die Daten – auch nach Standardisierung und bei ganzjähriger Betrachtungsweise – eine starke Unterversorgung mit Vitamin D, von der die Mehrheit in unserem Land betroffen ist. Die ausgewerteten Daten aus den letzten 27 Jahren lassen keine Besserung der Vitamin D-Versorgung in Deutschland erkennen, bis vor ca. 14 Jahren zumindest legen sie sogar eine signifikante Zunahme suboptimaler Werte nahe.
Und hier sind wir beim wichtigsten Kritikpunkt bzgl. des OP-Traktats angelangt: der augenscheinlichen Bagatellisierung der Mangelversorgung unserer Bevölkerung mit Vitamin D. Das ist der Hauptgrund, warum dem Tagblatt OberhessischePresse VitaminD-Bashing vorzuwerfen ist.

Wir können auch anders: Angst!!! – VitaminD-Bashing, OberhessischePresse und der warnende Zeigefinger
Doch diese Schlagseite ist keineswegs die einzige. Wie beim Vitamin D-Bashing vieler Mainstream-Medien weit verbreitet, wird auch in der OberhesssischenPresse das Mittel der Angstmache verwendet. Dazu werden Gefahren einer Vitamin D-Überversorgung bzw. -Vergiftung eindeutig überzeichnet, teilweise nicht einmal korrekt dargestellt. Als Beispiel für Letzteres sei das angeblich gehäufte Vorkommen von Nierensteinen durch Vitamin D-Substitution genannt. Ein solcher Zusammenhang ist aber – im Gegensatz zur Nierenverkalkung – nicht belegt [8 ; 9].
Entsprechend der eher einschüchternden Kernaussage des in der Gazette OberhessischePresse veröffentlichten Aufsatzes fallen auch die Empfehlungen zur Einnahme von 800 IE Vitamin D als täglicher Maximaldosis im Sinne des VitaminD-Bashing sehr konservativ aus. Man hält sich dabei an den durchaus umstrittenen Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

„Bei der Einnahme sollte man auf keinen Fall über 4000 IE kommen“ lässt Hamann seinen Labor-Experten Prof. Renz warnen. Diese deutlich großzügigere Grenze kann zwar für die meisten Menschen bei uns als grobe Richtlinie vertreten werden – auszunehmen sind hier allerdings Kinder zwischen 1 und 10 Jahren, die nicht mehr als 2000 IE täglich zu sich nehmen sollten, Säuglinge bis zur Vollendung des 1. Lebensjahres sowieso noch weniger – , ist jedoch letztlich auch zu pauschal. Beispielsweise können für stark Adipöse höhere Dosierungen sehr wohl angebracht sein.
Hilfreich wäre gerade in diesem Zusammenhang wohl auch der Hinweis auf den NOAEL (no observed adverse effect level) gewesen. Diesen wichtigen Parameter beschreibt die vom Autor zitierte EFSA ja ebenfalls. Der Wert, der diejenige Dosis angibt, unterhalb derer noch niemals toxische Nebenwirkungen beobachtet wurden, wurde für Erwachsene bei 10000 IE pro Tag etabliert. Dabei wird eine pathologische Erhöhung des Kalzium-Spiegels als entscheidender Faktor für Intoxikationen angesehen.
Die wichtigsten Fakten zum Thema Vergiftung durch Vitamin D wurden ebenfalls in unserer Vitamin D-Reihe zusammengestellt [10].
Quellen:
[Titelbild]: Quelle: Pexels, Foto: Mike van Schoonderwalt
[1]: https://weiterdenken-marburg.de/vitamin-d-bashing/
[2]: „Sonnenvitamin“ aus der Packung – wie sinnvoll ist das?, Autor: Felix Hamann, Foto: Thorsten Richter, Oberhessische Presse vom 19.02.2025, S.2. https://www.op-marburg.de/lokales/marburg-biedenkopf/marburg/marburg-vitamin-d-mangel-praeparate-aus-verpackung-7V7UBPV76NFXXLVLSCUSM5E5ZY.html
[3]: https://weiterdenken-marburg.de/wie-entsteht-vitamin-d/
[4]: https://weiterdenken-marburg.de/vitamin-d-einnahme-wie-und-wieviel/
[5]: https://weiterdenken-marburg.de/vitamin-d-kapitel-8-metabolismus-welchen-weg-nimmt-vitamin-d-in-meinem-koerper/
[6]: https://weiterdenken-marburg.de/vitamin-d-versorgung-in-deutschland/
[7]: Rabenberg M, Scheidt-Nave C, Busch MA, Thamm M, Rieckmann N, Durazo-Arvizu RA, Dowling KG, Škrabáková Z, Cashman KD, Sempos CT, Mensink GBM. Implications of standardization of serum 25-hydroxyvitamin D data for the evaluation of vitamin D status in Germany, including a temporal analysis. BMC Public Health. 2018 Jul 6;18(1):845. https://doi.org/10.1186/s12889-018-5769-y
[8]: https://ajph.aphapublications.org/doi/full/10.2105/AJPH.2013.301368
[9]: https://doi.org/10.1093/ndt/gfs297
[10]: https://weiterdenken-marburg.de/vitamin-d-kapitel-9-kann-ich-mich-mit-vitamin-d-vergiften/