Umdeutung der Werte und Traditionen der Aufklärung?

Pierre Bourdieu erklärt, wie durch die Neoliberale Revolution die emanzipatorischen Werte der europäischen Aufklärung als vermeintlich ‚rechts‘ umgedeutet werden.

Echte Intellektuelle zu Werten und Tradition der europäischen Aufklärung. ‚Gottvater der Soziologie‘ Bourdieu, dessen Ausführungen besonders für Menschen, die sich nach Selbstzuschreibung ‚links‘ begreifen, interessant sein sollten.

Über die Tradition der europäischen Aufklärung, der Tradition des „Mundaufmachens“ und der totalen Verdrehung gerade politischer Begriffe, die in völlig verdrehten politischen Kategorien und Weltbildern resultieren.

Über Neoliberalismus, reaktionäre Globalisten und ‚Fortschritts-Fans‘, Verlust von Kultur und Identität und Geschichtsvergessenheit. „Beunruhigende“ Momente der „Homogenisierung der Kultur“ und „Nivellierung nach Unten“.

„Ein globales Menü, das keine Unterschiede mehr kennt.“

Und zwar als Problem für klassische und traditionelle ‚linke‘ Werte.

„Diese pseudo-Entwicklungen sind ja eigentlich nur unterschiedliche Arten der Verinnerlichung der herrschenden Sichtweise – der Sichtweise der Herrschenden über die Beherrschten. Das heißt im Grunde doch, dass – streng genommen – die Europäer sich schämen. Ich sage das ganz offen. Das ist eine Haltung von Kolonialopfer, dass die Europäer sich ihrer Zivilisation schämen. Das beginnt im Wirtschaftlichen, greift aufs Kulturelle über – nach und nach – … man schämt sich der kulturellen Traditionen und lebt unter einer Art SCHULDKOMPLEX, eigentlich. Was hier empfunden wird als archaische Verteidigung von Traditionen, also im Kino, in der Literatur, eigentlich in allen Bereichen.“

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Günter Grass

Zum Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos:

„Ich glaube die Herrschenden heute haben einen Grad der Arroganz erreicht, den es vorher nicht gegeben hat. (…) Heute ist es so, dass die Herrschenden eine ganz schreckliche Sicherheit haben (…). Sie meinen sie haben recht, die Wissenschaft hinter sich – die Wirtschaftswissenschaft, die Mathematik hinter sich – alle hehrsten Kräfte hinter sich und sind deshalb so arrogant und andererseits auch so blind. Und das halte ich für sehr beunruhigend. Für sie (selbst) – naja, kein Problem – aber es ist beunruhigend für die Welt! (…) Wir sitzen da in einem Flugzeug ohne Pilot, haben sehr starke wirtschaftliche Mechanismen, die diejenigen beherrschen, die meinen sie würden sie beherrschen.“

Pierre Bourdieau im Interview über das WEF

Die totale und diametrale Verdrehung von allem fängt bereits in den 80ern an, wird an konkreten Beispielen von Blair und Schröder diskutiert, und dürfte gerade für ‚lifestyle-‚ und ‚pseudo- Linke‘ sehr interessant sein. Aber ebenso für ‚Konservative‘ (was auch immer damit dann gemeint sein mag), die mit denselben Kategorien – nur quasi andersherum – denken/sprechen.

Beide Gespräche sind m.M. nach wirklich Gold – in dreierlei Hinsicht:

  • Analyseleistung
  • Prognoseleistung
  • Antwortangebot, für die totale Verdrehung politischer Begriffe, die besonders ‚linke Milieus‘ völlig verdreht und gekapert, sodass sie sich nun in weiten Teilen im totalen Selbstwiderspruch gegen ihre eigenen Ideen-, Theorie- und Wertetraditionen richten

„Ich hab den Eindruck, dass dieses Gefühl, das wir haben, dass uns die Tradition der Aufklärung abhanden gekommen ist, eigentlich damit zu tun hat, dass die ganze Sichtweise von der Welt auf den Kopf gestellt worden ist durch diese heute dominante neoliberale Art, die Dinge zu sehen. (…) Ich glaube diese neoliberale Revolution ist eine Revolution von rechts in dem Sinne, wie man in den 30er Jahren in Deutschland von „konservativer Revolution“ (politisch – nicht kulturell!) sprach. (…) Eine Revolution, die die Vergangenheit wieder herstellt, die in die Vergangenheit zurück kehrt und die TROTZDEM irgendwo im PROGRESSIVEN GEWAND daher kommt, das heißt, RÜCKSCHRITT wird hier in FORTSCHRITT UMDEFINIERT, und wer gegen Rückschritt ist, wirkt dann plötzlich als rückschrittlich. Und diejenigen, die den Terror bekämpfen, stehen da als Terroristen. Ich glaube wir beide haben ja dieses Schicksal erlitten, diese Erfahrung machen müssen – man bezeichnet uns als archaisch, altmodisch in Frankreich – Dinosaurier, ganz genau.“

9:50m – Bourdieu

Das kann jetzt jeder selbst 1 zu 1 auf die ‚Regierungs‘ und Anetta Kahane – und wie sie alle heißen – Herrschafts-Kampfpropaganda-Rhetoriken übertragen, von wegen ‚rechten Fortschrittsverweigerern und Wissenschaftsfeinde‘ usw. usf.

Günter Grass im Gespräch mit Pierre Bourdieu (1999)
Pierre Bourdieu über das Weltwirtschaftsforum in Davos (2001)

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert