Am 09.08.23 hielt der Arzt Matthias Jochheim, ehemaliges Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW-Sektion und Koordinator der IPPNW-Regionalgruppe Rhein-Main, anlässlich des Jahrestages des Atombomben-Abwurfs auf Hiroshima einen ergreifenden Vortrag zum Thema im nahezu voll besetzten Marburger Rathaussaal. Eingeladen hatten ICAN, der DGB Marburg und das Marburger Bündnis „Nein zum Krieg“. Moderiert wurde die Veranstaltung sehr souverän von Christa Winter.
Als zentrales Element dieses Artikels geben wir in gekürzter, teilweise leicht abgeänderter und etwas ergänzter Form wesentliche Inhalte des Vortrages und einige ausgewählte Punkte der anschließenden Diskussion wieder, erweitert um einige Anmerkungen zum Zustand unserer Medien. Der Vortrag selbst ist im Original nachzulesen und unbedingt empfehlenswert.
Was geschah am 06. August vor 78 Jahren?
Am 6. August 1945 wurde zum ersten Mal in der Geschichte eine Atombombe als Waffe eingesetzt, gegen die japanische Großstadt Hiroshima. Dort lebten etwa 340.000 Menschen, die große Mehrheit Zivilisten ohne direkte Kriegsbeteiligung, außerdem schätzungsweise 20.000 koreanische und chinesische Zwangsarbeiter und US-amerikanische Kriegsgefangene, also selber Opfer der japanischen Kriegsherren. Eine militärische Bedeutung kam der Stadt nicht zu, ebenso wenig wie dem drei Tage später mit einer Atombombe anderen Typs (Plutoniumbombe) ausgelöschten Nagasaki.
Die Explosionskraft der Hiroshima-Bombe entsprach 13,4 Kilo-Tonnen TNT. Als sie in einer Höhe von 580 m über der Stadtmitte explodierte, tötete sie in einem Umkreis von 0,5 Kilometer 90 Prozent der Menschen sofort. Die Temperatur am Hypozentrum betrug für etwa eine Sekunde ca. 3.000-4.000 Grad Celsius. An dieser Stelle verdampfte alles. Menschen, die sich im Explosionszentrum aufhielten, verbrannten und verglühten vollständig und hinterließen in einigen Fällen ihre Schatten an stehen gebliebenen Hauswänden, die sie für einen Moment vor der Hitzestrahlung abgeschirmt hatten. Eine ungeheure Druckwelle, die auch im Umkreis von 40 km wahrgenommen wurde, zermalmte die Stadt. Es folgten Feuerstürme mit Windgeschwindigkeiten von über 250 km/h und Bodentemperaturen von über 1.000 Grad Celsius. Glas und Eisen schmolzen, der Asphalt brannte. Zu den geschätzt 70.000 Bewohnern, die sofort tot waren, kamen bis Ende des Jahres 1945 weitere 70.000. Fünf Jahre später sollten es insgesamt 200.000 werden. Denn die Strahlung tötete auch mit Zeitverzögerung, und noch Jahrzehnte später erkrankten und starben Menschen an Krebs infolge der Verstrahlung.
Der Vortag von Jochheim ließ auch die persönliche Erfahrung eines Überlebenden in Hiroshima, die dieser in erschütternden Worten festgehalten hat, andeutungsweise nachempfinden.
Von den US-Soldaten wurde die Hiroshima-Bombe „Little Boy“ genannt, ähnlich zynisch war die Bezeichnung für das zweite Massenmord-Instrument, welches Nagasaki traf: „Fat Man“
Was wurde von den Verantwortlichen aus diesen Verbrechen gelernt?
Der Horror von Hiroshima und Nagasaki konnte nicht verhindern, dass nach dem 2. Weltkrieg, statt dass gerade diese grauenhaften Massenvernichtungsmittel abgerüstet worden wären, im Gegenteil zunächst auch Großbritannien seinen Willen zur Nuklearrüstung erklärte, und dann ab 1949 die Sowjetunion – dem Beispiel der USA folgend und unter dem Eindruck der unmissverständlichen Drohung der USA – mit dem Aufbau eines gigantischen Atomwaffenarsenals begann. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde im Kalten Krieg zur Parole.
Inzwischen sind es neun Staaten, die sich diesem immer labileren „Gleichgewicht“ angeschlossen haben, immer mit dem Hinweis auf eigene Bedrohungen. In den späteren Jahren wurden Bomben entwickelt, die bis zu 20 Megatonnen Sprengkraft, somit im Vergleich zu Hiroshima eine weit mehr als 1000-fach stärkere Explosionswirkung, entfalten können. Dabei geht der Trend in neuester Zeit zum „Mini“, bis hin zu sog. „taktischen“ Atomwaffen, was die Schwelle zum atomaren Inferno weiter herabsetzt.
Immerhin theoretisch macht sich – viel zu langsam – die Erkenntnis dieses Wahnsinns auch bei Politikern höheren Ranges wieder etwas stärker bemerkbar. So sprach UN-Generalsekretär Guterres davon, dass die Welt seit Ende des Kalten Kriegs noch nie so nahe an dem Ausbruch eines Nuklearkriegs gewesen sei wie heute.
Besorgte Atomwissenschaftler haben in ihrem Magazin „Bulletin of the Atomic Scientists“ vor Jahren schon eine symbolische Weltuntergangsuhr geschaffen. Diese zeigt mittlerweile 90 Sekunden vor dem Doomsday! Matthias Jochheim betont dennoch die Notwendigkeit, seinen Optimismus nicht aufzugeben. Allerdings kommt er nicht umhin, auf Vorgänge wie den Folgenden hinzuweisen: „10 Milliarden Euro zum Kauf neuer Bombenflugzeuge für den Transport noch raffinierterer Nuklearbomben führen uns da in die absolut falsche Richtung. Ich meine: sicherer wird unser Leben dadurch nicht werden!“
Erfolge zivilgesellschaftlicher Bewegungen …
In den 50er Jahren regte sich auch in Deutschland der zivile Widerstand gegen die geplante Nuklearrüstung der neu gegründeten Bundeswehr. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Folgen der oberirdischen Atomwaffentests – global starke Zunahme von Krebserkrankungen durch Strahlung und Fallout – führten 1963 zum überwiegend erfolgreichen internationalen Teststopp-Abkommen, dem Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Bis 1996 hatte Frankreich noch oberirdisch getestet, China mindestens bis 1980. (Unterirdisch gingen Tests weiter.)
Eine neue Massenbewegung gegen Atomrüstung erfasste Europa zu Beginn der 80er Jahre, als die NATO die sogenannte „Nachrüstung“ plante – die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing 2 und Cruise Missiles mit nuklearen Sprengköpfen und nur wenigen Flugminuten bis Moskau. Die Sowjetunion hatte ihrerseits SS-20 Raketen in Osteuropa aufgestellt. Die berechtigte Furcht vor einem Nuklearkrieg trieb Hunderttausende zu Demonstrationen auf die Straßen. Diese machtvolle internationale Bewegung trug erheblich dazu bei, dass schließlich 1987 zwischen den USA und der SU das Mittelstrecken-Raketenabkommen INF zu einer realen, kontrollierten Abrüstung und Abzug auf beiden Seiten der Blockgrenzen führte.
… und immer wieder große Rückschläge
Dieses INF-Abkommen wurde von den USA am 2. August 2019 gekündigt. Die Aufstellung neuer ultraschneller US-Raketen in Deutschland oder auch unmittelbar an den russischen Grenzen ist geplant – die Kommandozentrale wird in Wiesbaden errichtet.
Kündigungen der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen mußten wir in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen:
- 2002 Rücktritt der USA vom ABM-Vertrag, dem Anti Ballistic Missile Treaty – die strikte Begrenzung von Raketen-Abwehrsystemen wurde damit aufgehoben, und entsprechende Aufrüstung in Osteuropa installiert. Als Stationierungsländer bekannt sind Stützpunkte in Polen und Rumänien.
- Im Mai 2020 wurde das Open Skies-Abkommen zur Vertrauensbildung durch gegenseitige Luftüberwachung durch die US-Regierung gekündigt, Russland folgte diesem Schritt nach.
- Nur der NEW-START-Vertrag zur Begrenzung einsatzfähiger strategischer Atomwaffen besteht nach Verlängerung 2021 noch, aber es gab monatelang keine Konsultation über seine Umsetzung und v. a. einen Nachfolgevertrag. Unmittelbar vor einem Treffen hierzu stellten die USA themenfremde Vorbedingungen (Ukraine). Das größte Problem ist, dass die im Vertrag vereinbarten gegenseitigen Kontrollen nicht mehr stattfinden, denn die USA verweigern den russischen Kontrolleuren seit einiger Zeit die nötigen Visa und lassen auch russische Flugzeuge, mit denen die Delegationen einreisen könnten, nicht mehr ins Land („Sanktionen“). Damit verhindern sie seit Langem die russischen Inspektionen. Russland hat darauf 2022 reagiert und den USA ebenfalls Kontrollen russischer Standorte untersagt.
Berichte, daß die US-Regierung über eine Wiederaufnahme von Atomtests nachdenkt, gibt es in den USA schon seit Jahren immer wieder, aber aus irgendeinem Grund greifen deutsche Medien diese nie auf.
Übrigens beschränkt sich diese Politik des Westens nicht nur auf Atomwaffen: Es war auch die NATO, die den KSE-Vertrag, der Obergrenzen für schwere Waffensysteme zwischen Atlantik und Ural festlegte, nie ratifiziert hat.
Ziviler Widerstand und vorsichtige Hoffnung
In einem weiteren Teil des Vortrags ging es um die Bedeutung von Völkerrecht und Diplomatie als Werkzeugen gegen den Nuklearkrieg.
Betont wurde aber wiederholt auch die Rolle des zivilen Widerstands. Dieser hat sich nicht zuletzt in regionalen und überregionalen Gruppen organisiert. Eine davon sind die IPPNW, die Internalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.; diese haben sich 1980 aus der Erkenntnis heraus zusammengeschlossen, dass bei einem Atomkrieg kein Arzt den Opfern wird helfen können, so dass die Vermeidung einer solchen Katastrophe ihr oberstes Ziel sein muss.
Mit Blick auf die Atomwaffen lautet die Haupt-Forderung: Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag! Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland !
Als Beispiel für aktuelle Erfolge wurde gerade dieser von nun bereits 92 Regierungen beschlossene Atomwaffenverbotsvertrag hervorgehoben. Der habe eben auch die Unterstützung zahlreicher Bürgermeister, der „Mayors for Peace“, darunter auch der Stadt Marburg und ihres Oberbürgermeisters.
Lebhafte Diskussion
In der anschließenden Diskussion gab es zahlreiche Fragen und Gedankenanstöße. Viele bezogen sich auf juristische oder moralische Aspekte, teilweise mit einem durchaus resignativen Unterton. So war es nur folgerichtig, dass im Verlauf zunehmendes Gewicht auf mögliche Lösungsansätze gelegt wurde. Hier seien einige davon stichwortartig angerissen:
US-Kommandozentrale in Wiesbaden schließen!
Vertrag über die Nutzung von Ramstein als US-Militärbasis kündigen!
Auf deutsche Souveränität pochen!
Senioren-Blockaden militärischer Einrichtungen nach dem Vorbild von Mutlangen!
Organisieren, auch als Studenten, z.B. bei ICAN!
Aufgabe jeder (falschen) Hoffnung auf Reue oder wenigstens Einsicht bei Narzissten oder anderen Karrieristen in Politik, Militär oder Medien!
Warnung vor Gesinnungsethikern!
Notwendigkeit der konsequenten Erziehung zur Verantwortungsethik!
Einstellen jeder finanziellen „Großzügigkeit“ gegenüber dem industriell-militärisch-medialen Komplex (z.B. Steuererklärung)!
Warum dieser Bericht, eine Woche nach dem Ereignis?
Hat das etwas mit Informations-Defizit zu tun?
Irgendwie – entgegen aller Erfahrung – erwischt man sich immer mal wieder dabei: Bei der Annahme, die Mainstream-Medien kämen doch wenigstens in so relativ harmlosen Fällen politischer Opposition wie dem Protest gegen die drohende Vernichtung unserer Erde ihrem Auftrag nach zumindest formeller Information ihrer Leser nach. Weit gefehlt.
Sogar der Jahrestag selbst, also die Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen und das Anlegen einer tickenden Zeitbombe für uns alle, den Beginn des nuklearen Zeitalters, kam in unseren selbsternannten Qualitätsmedien nicht vor. Weder wurde am 06.08. an Hiroshima noch am 09.08. an Nagasaki erinnert – weder in der Tagesschau noch in den Tagesthemen. Auch bei unserer regionalen Presse schien kein Reporter zu dem seit Wochen angekündigten Event abkömmlich – in beharrlicher Fortsetzung der bisherigen Linie gegenüber der Friedensbewegung und der Verfolgung einer lückenlos NATO-treuen Berichterstattung. Sie steht damit beileibe nicht allein, vielmehr könnte man sagen: In Reih und Glied.
Wenn sich drastische Realitätsverweigerung mit moralischer Verkommenheit paart: Westliche Mainstream-Presse at its best!
Man könnte ohne die geringste Mühe Bibliotheken mit Beispielen für den offensichtlichsten Propaganda-Müll der Konzern-Medien gerade zum Thema Rüstung, Militär- und Geopolitik füllen. Dabei besteht eben ein wesentlicher Teil der Desinformation im Weglassen relevanter Fakten. Inzwischen geht die Manipulationsmaschine aber schon so weit, ihre ganze Abartigkeit und fehlende Logik quasi selbst zu beschreiben – wenn auch unfreiwillig.
Ein besonders abschreckendes Beispiel wollen wir unserer Leserschaft nicht vorenthalten: Es geht um einen Artikel vom 08.08.23 aus The Telegraph, einer der Leuchtfackeln der westlichen Mainstream-Presse in Europa (es reichen fast die letzten 6 kleinen Absätze zum Verständnis, mit Betonung auf dem letzten!): Zentrales Thema – neben Putin böse, feige, machtgierig, grausam, teuflisch, irre oder auch nicht irre, krebskrank fehlt diesmal -, auch von unseren heimischen Medien seit vielen Wochen regelmäßig und inbrünstig bedient: „Putin blufft nur“ …
Einfach lesen!
Der Telegraph am roten Knopf
Hier die letzten Absätze in deutscher Übersetzung:
Im Frühjahr 2022 schlugen ukrainische Brigaden den russischen Angriff auf Kiew zurück und drängten die überlebenden Russen an die Ränder der Ost- und Südukraine zurück. Sechs Monate später nutzten eifrige ukrainische Brigaden Lücken in den russischen Linien und drängten die Russen noch weiter zurück. Und acht Monate später begannen die Ukrainer mit ihrer aktuellen Gegenoffensive.
Und die ganze Zeit über haben ukrainische Raketen, Drohnen, Saboteure und Attentäter russische Beamte getötet, russische Kampfflugzeuge abgeschossen, russische Kriegsschiffe versenkt und militärische Einrichtungen im russischen Luftraum, in russischen Gewässern und auf russischem Boden in die Luft gesprengt.
Putin hat damals keine Atombombe gezündet. Er wird auch jetzt keine Atombombe zünden. Denn so bösartig, feige und grausam Putin auch ist, er ist nicht wahnsinnig. Und er will nicht bei einem nuklearen Vergeltungsschlag sterben, der mit Sicherheit auf einen atomaren Angriff auf die Ukraine folgen würde.
Und selbst wenn in Putins zunehmender Verzweiflung ein Hauch von Wahnsinn steckt, sollten sich die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten atomaren Drohungen nicht beugen. Wenn Putin über Medwedew nur das Wort „nuklear“ sagen könnte, um seinen Willen durchzusetzen, würde er ständig „nuklear“ sagen – und seine Armee durch Osteuropa marschieren lassen, deren Truppen durch die atomaren Drohungen ihrer Führer geschützt sind.
Medwedew hat Angst. Denn Putin hat Angst. Diese Angst macht sie unbedacht in ihren Worten. Aber sie macht sie nicht zu Selbstmördern.
Und wenn ich mich irre, spielt das auch keine Rolle. Wenn ich mich irre, dann war Putin bereit, nach jeder Niederlage der Welt ein Ende zu setzen. Und wenn diese Niederlage nicht in der Ukraine eingetreten wäre, würde sie halt irgendwo anders eintreten. Was bedeutet, dass das Armageddon seit 1999 unvermeidlich ist.