Falschmeldung in der Oberhessischen Presse zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit

Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit sind tragende Säulen einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung. Diese Grundrechte sind daher in unserem Grundgesetz in den Artikeln 5 und 8 ausformuliert, um die freie politische Willensbildung zu gewährleisten. Sie können nur eingeschränkt werden, um ein anderes ebenso gewichtiges Grundrecht zu schützen.

Derartige Grundrechtseinschränkungen sind daher immer sorgfältig zu begründen und kritisch zu hinterfragen. Daher ist es sehr verstörend, wenn Manfred Hitzeroth in der Oberhessischen Presse (online am 20.10.2023, Papier-Ausgabe am 21.10.2023) lapidar schreibt:

Laut Heinz Frank, dem Leiter der Polizeistation Marburg, war es die erste Veranstaltung dieser Art in Mittelhessen nach dem Beginn des Konflikts in Nahost. Die Teilnehmer der Mahnwache hielten sich an die Auflage der Ordnungsbehörden, wonach keine Redebeiträge mit Meinungsäußerungen zu dem Konflikt zwischen der Hamas und Israel erlaubt waren.“

OP-Online Artikel am 20.10.2023

Wenn es denn so gewesen wäre, hätte ein Journalist sofort aufmerken müssen! Wie kann es sein, dass das Recht auf Meinungsäußerungen auf einer Versammlung derart weitgehend eingeschränkt wird? Wäre Artikel 8 des Grundgesetzes noch irgendetwas wert? Wären wir dann noch eine Demokratie? Gerade Journalisten sollten besonders sensibel und wachsam sein, wenn Kommunikationsrechte eingeschränkt werden.

Fake News? Desinformation? Oder Misinformation

Ganz so scheint es aber nicht gewesen zu sein. Zumindest antwortete Heinz Frank gegenüber Weiterdenken-Marburg.de auf die konkrete Nachfrage mit einem klaren „Nein“.

Weiterdenken-Marburg.de:
Entspricht es den Tatsachen, dass die Beschränkungsverfügungen durch Ordnungsamt und/oder Polizei für die Demo „Solidarität mit Palästina“ am 20.10.2023 eine Auflage enthielten, die Meinungsäußerungen zum Konflikt zwischen Hamas und Israel verboten?

Heinz Frank (Leiter der Polizeistation Marburg):
Nein.

Durch Zeitungsberichte wie den von Manfred Hitzeroth wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass bei manchen Themen die Meinungsfreiheit faktisch abgeschafft ist. Wenn dem so wäre, müsste ein Aufschrei durch unsere Gesellschaft gehen!

Erschreckend ist, dass weder der Redakteur noch das Redaktionsteam der OP (es hat doch hoffentlich jemand korrekturgelesen?) erkannt haben, welche Brisanz in dieser lapidaren (Falsch?)-Behauptung liegt.

Falls Herr Hitzeroth hier „nur“ etwas falsch verstanden hat, sollte er dies unverzüglich richtigstellen. Genau das hat die Oberhessische Presse jedoch nicht vor. Auf Nachfrage schreibt Hitzeroth:

Auch nach Rücksprache mit Herrn Frank (Leiter der Polizeistation Marburg) haben wir entschieden, dass es keinen Korrektur-Bedarf für den Artikel „100 Menschen gedenken in Marburg der Opfer in Gaza bei Mahnwache“ gibt.

Mail von Manfred Hitzeroth vom 26.10.2023

Pressekodex

Wie verträgt sich dieses Verhalten mit dem Pressekodex, dem die Oberhessische Presse sich eigentlich verpflichtet hat? In Ziffer 1 des Pressekodex geht es um die Achtung vor der Wahrheit:

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.

Ziffer 1 des Pressekodex

In Ziffer 3 haben sich die Zeitungen verpflichtet, Fehler zu korrigieren:

Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezogener Art, die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan, das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtigzustellen.

Ziffer 3 des Pressekodex

Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist hier offenkundig!


Update 04.01.2024

Aufgrund dieser für mich offenkundigen Verstöße gegen den Pressekodex habe ich am 13.11.2023 eine Beschwerde beim Deutschen Presserat eingereicht. Mit Schreiben vom 22.11.2023 bestätigte der Presserat den Eingang der Beschwerde. Der Presserat weist darauf hin, dass der Beschwerdeausschuss viermal jährlich tagt und bittet um Verständnis für die entsprechende Bearbeitungsdauer. Eine Entscheidung dazu ist also frühestens im März/April 2024 zu erwarten.

5 Kommentare

  1. Der Journalist und mehr als 10 Zeug*innen haben das mitbekommen. Natürlich sagt der Leiter der Polizeistation das sei nicht passiert, da ihm als Polizist die Unverhältnismäßigkeit der “Einschränkung“ bewusst ist.

    Was ist das für ein „Artikel“?

    1. Wenn die Polizei vor Ort tatsächlich unverhältnismäßige Einschränkungen der Versammlungsfreiheit durchgesetzt hat, dann waren diese rechtswidrig.

      Warum hat der Journalist das rechtswidrige Verhalten der Polizei dann nicht zum Haupt-Thema seines Artikels gemacht? Dass die Polizei auf Anfrage ihr rechtswidriges Verhalten dann noch abstreitet, macht den Skandal ja noch größer. Ist der „Journalist“ dem nachgegangen, nachdem ich ihn mit dem Dementi der Polizei konfrontiert hatte? Nein. Darum ging es mir hier.

      Der Bericht des „Journalisten“ passt nicht zu den Aussagen der Polizei. Falls die Aussage der Polizei stimmt, hat der „Journalist“ falsche Tatsachenbehauptungen verbreitet. Falls die Polizei lügt, hat der „Journalist“ den Skandal komplett ignoriert und deckt die Lügen der Polizei durch seine Arbeitsverweigerung.

      1. Die Leute empfinden diese unverhältnismäßigen Einschränkungen mittlerweile schon für normal. Es gibt diese zahlreich im ganzen Bundesland, unzählige Verfahren laufen. Es gibt Ausarbeitungen über viele dieser Fälle. Das sind keine „Skandale“, das ist Alltag für die meisten Altivist:innen, die sich für Palästina einsetzen.

        Hier nur ein paar wenige Beispiele: https://verfassungsblog.de/von-brokdorf-nach-neukolln/

        https://verfassungsblog.de/dann-kommt-die-polizei/ (Es handelte sich hier um einen Protest von jüdischen Menschen)

        https://verfassungsblog.de/versammlungsfreiheit-gilt-auch-fur-palastinenser/

        https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg-freiburg-vgh-mannheim-palaestina-demonstration-demo-parole-river-to-sea-hamas/

        Aus eigener Erfahrung als Juristin und Mensch, der für menschenrechtliche Organisationen im Bereich Versammlungsfreiheit aktiv ist, kann ich sagen, dass ich allein unzählige juristisch fragwürdige oder offensichtlich unzulässige Auflagen, präventive Verbote und repressive Maßnahmen in dem Kontext erlebt habe. Für mich persönlich ist diese Systematik skandalös, die Öffentlichkeit scheint es jedoch nicht sonderlich zu interessieren.

        Fazit ist, die Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit von Palästinenser:innen und solchen, die für diese Aktivismus betreiben ist momentan unverhältnismäßig stark eingeschränkt und diese Verbote und Beschränkungen entbehren häufig jeglicher Rechtsgrundlage.

        1. Danke für die Links und Hintergrundinfos zum Thema. Es ist aus meiner Sicht ein Skandal, dass diese Einschränkungen der Versammlungsfreiheit von der Presse nicht als Skandal behandelt werden.

  2. Also ja, der Journalist hätte dies als Skandal berichten sollen, das würde aber nicht zur Staatsräson und auch nicht zum extrem einseitigen Journalismus der oberhessischen Presse passen. Insofern erlangt der Artikel – wenn auch archiviert – in Kombination mit den Zeugenaussagen Beweiskraft. Das ist besser als dieser Artikel hier und auch besser als Nichts.
    Folge war im Übrigen eine Sondersitzung der Politiker:innen in Marburg zum Thema Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Stadt. Also der Vorfall wurde sehr wohl ernst genommen und – aufgrund der obigen Ausführungen – auch von niemandem bezweifelt.

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